16te-Paris-Brest-Paris
Paris-Brest-Paris 2007
Ein Erlebnisbericht
Von Martin Huber, RSG Blankenese
Durchnässt steige ich ins Wohnmobil. Schmatzend lösen sich die Überschuhe. Behutsam ausziehen, ein Handtuch, mein Schlafsack. Ich zittere. Eiskalte Hände und Füße, Übermüdung. Meine Knie schmerzen. Es ist ein Uhr Morgens, seit 44 Stunden sitze ich im Sattel, ich will nur noch schlafen, habe keine Lust mehr. Ich will erst wieder aufbrechen, wenn es hell wird und nicht mehr regnet. Wenn ich überhaupt wieder losfahre. Zweifel. Ein heißer Tee. Noch ein ordentliches Stück liegt vor mir, etwa 450 Kilometer. Jetzt schlafen.
Momentaufnahme eines Paris Brest, das laut Veranstalter vom schlechtesten Wetter geprägt war, an das man sich bei einer Austragung erinnern könne. Statistisch spiegelt sich das Wetter in der niedrigsten Finisherquote wider, die es seit 1961 gegeben hat. Bei den letzten Austragungen kamen ungefähr 15% der Starter nicht ins Ziel. Diesmal sind es 28%, die auf der Strecke bleiben. Viele derer, die ursprünglich auf Zeit fuhren, kämpfen nun mit dem Zeitlimit. Viele, die auf das Limit fahren wollten, finden sich außerhalb dessen wieder. Der Veranstalter verlängerte die Öffnungszeiten der Kontrollstellen um zwei Stunden, um die Hors Délai Zahlen in Grenzen zu halten. Auch das gab es in den fünfzehn vorherigen Austragungen noch nicht.
Gleichzeitig sind die Anmeldezahlen so hoch wie nie zuvor. 5.160 Starter aus mehr als 25 Ländern haben sich im Frühjahr und Frühsommer über die ausgeschriebenen Brevet-Serien qualifiziert, sind also jeweils 200, 300, 400 und 600 km in bestimmten Limitzeiten abgefahren und haben sich anschließend bei dieser Königin der Brevets anmelden können.
ParisBrest findet nun alle vier Jahre statt, zum sechzehnten Mal mittlerweile. Das Profi-Rennen feierte 1891 (!) Premiere. Seit 1931 gibt es die Austragung zusätzlich unter dem Randonneur-Gedanken, seit 1956 ausschließlich nicht mehr zum Broterwerb, sondern just for fun.
Wenn man nicht zu den Schnellsten gehört, wird man sich eine Woche Urlaub nehmen müssen. Sonntag ist Ausgabe der Startunterlagen. Es gibt drei Startzeiten, zwischen denen man wählen kann. Die 80-Stunden-Gruppen starten am Montagabend ab 20 Uhr (etwa 1.300 Fahrer). Hier gehen auch die Rekordjäger auf die Strecke, die nach weniger als 48 Stunden wieder zurück sein wollen. Anschließend starten zwischen 21 Uhr und 23 Uhr in fünf Blöcken zu 600 Fahrern die 90-Stunden-Gruppen. Am Dienstagmorgen um 5 Uhr geht schließlich als letztes auf die Strecke ein 750 Fahrer starker Pulk der 84-Stunden-Gruppe, in der auch ich starte. Die 1.230 Kilometer, die mit stattlichen 10.000 Höhenmetern gespickt sind, müssen also von jedem spätestens am Freitagnachmittag absolviert sein.
Bereits am Wochenende vor dem Start regnet es. Die Vorhersage verspricht wenig Besserung in den nächsten Tagen. Sonntagnachmittag, nach erfolgter Anmeldung, gehe ich zum Treffen der deutschen Randonneure, wie sich die Ausdauerfahrer nennen. Claus Czycholl, nun fünffacher Finisher, Hamburger Organisator der Deutschen Teilnehmer, begrüßt 370 angemeldete Deutsche, darunter Friedhelm Lixenfeld, den mit 76 Jahren ältesten deutschen Teilnehmer. Wir sind nach den Franzosen und Amerikanern die drittstärkste Fraktion. Das ist umso erstaunlicher und erfreulicher als sich 1991 erst drei Deutsche unter den damals bereits über 3.000 Teilnehmern befanden.
Am Montagabend schaue ich mir den Start der ersten 80-Stunde-Gruppe an. Bei einsetzender Dämmerung machen sich die ersten Fahrer auf den Weg nach Brest. Jetzt muss ich ins Bett, schließlich muss ich um halb vier hoch, um um fünf am Start zu sein. Im Wohnmobil wird das stetige Prasseln des Regens alle zwanzig Minuten vom kurzen Donnern der Startschüsse übertönt.
Nach der vorerst letzten ordentlich zu nennenden Nacht mache ich mich bei völliger Dunkelheit auf den Weg zum Start. Es regnet nicht, die Temperatur ist lau. Nervosität lässt sich am Besten durch einen Plausch im Startblock abschütteln.
Neben mir ein Schweizer, der bei dieser Gelegenheit die Race Across America Qualifikation schaffen will. In 65 Stunden muss er zurück sein. Sein Rezept: „Langsam losfahren und dann immer schneller werden". Schön, denke ich mir, entspricht nicht meiner Erfahrung bei längeren Brevets, wünsche ihm viel Erfolg, und hoffe inständig, dass sich unter den restlichen Teilnehmern meiner Gruppe nicht nur RAAM-Aspiranten befinden, die mich am ersten ernsten Hügel allein im Regen zurück lassen.
Um Punkt fünf startet die Gruppe. Wir ziehen gleich mächtig los und irgendwann teilt sich der Mega-Pulk in größere Gruppen. Als es gegen sieben hell wird, setzt auch der Regen wieder ein. Nun finden sich kleinere Gruppen, die durch den Tag fahren. Der Tag ist von Schauern durchtränkt, hat aber auch trockene Abschnitte.
Nach fünfeinhalb Stunden erreiche ich die erste Station in Mortagne-au-Perche (km 140), an der aber auf dem Hinweg noch nicht gestempelt wird. Also gleich durch und weiter. Irgendwann, denke ich mir, wird es sich rächen, dass ich in den Gruppen festklebe, meinen Puls an den Anstiegen in den roten Bereich unvernünftig weit hochjage, immer noch mit über die Kuppe gehen muss. Ja, so ist das als Néophyte, als Neuling, wie ich als Erstteilnehmer heiße. Unvernunft bereits im ersten Zehntel der Strecke.
Nach weiteren drei Stunden komme ich zur ersten echten Kontrolle in Villaines-la-Juhel (km 220). Bis hierhin erinnert mich alles an einen Radmarathon, abgesehen von den zahlreichen merkwürdigen Gepäckkonstruktionen und den Leuchtwesten, die die Fahrer tragen. Leuchtwesten oder zumindest reflektierende Bänder sind bei einsetzender Dunkelheit Pflicht.
In der Station zieht ein freundlicher ehrenamtlicher Helfer meine Magnetkarte durch das Lesegerät. Nun kann jeder, der meine Startnummer kennt, über das Internet meinen zumindest ungefähren Standort abfragen, sehen, welche Station ich bereits angelaufen habe. Viel wichtiger allerdings: Mein Streckenbuch bekommt einen Stempel und eine Durchfahrzeit. Das ist das wichtigste Dokument, anhand dessen am Schluss auch die Anerkennung des Brevets ausgemacht wird. Die meisten Teilnehmer tragen daher das Streckenbuch in einem wasserdichten Beutel als Brusttasche um den Hals. Für den Fund seines verlorengegangenen Streckenbuchs würde wohl so mancher Randonneur einen Pakt mit dem Teufel eingehen…
Ich passiere Fougères (km 310) und treffe auf Klaus, einen Randonneur, den ich von einem Qualifikationsbrevet in Hamburg kenne. Mit Klaus fahre ich die nächsten 150 Kilometer gemeinsam. Wir kommen schließlich nach Tinténiac (km 370), wo wir uns auf die kommende Nachtfahrt vorbereiten. Die nächste Station Loudéac ist mein „Etappenziel", an der das Wohnmobil wartet.
Die Fahrt nach Loudéac ist eine wahre Freude. Die 800 Blauen sind mittlerweile zersplittert, aber wir treffen auf jede Menge Grüne, die am Abend vor uns gestartet sind. Die Startnummern der Limit-Gruppen haben unterschiedliche Farben: Die Roten sind die 80-Stunden-Fahrer, die Blauen die 84-Stunden-Fahrer und die Grünen, die 90-Stunden-Fahrer.
Zusammen mit Klaus fahre ich fröhlich schwatzend durch die Dunkelheit. Wir stellen wirre Theorien auf, unter welchen thermischen Bedingungen Landwind in Seewind umschlägt und vertreiben uns sehr nett die Zeit, während sich in unserem Schlepptau Fahrer aller Herren Länder sammeln.
Auf einmal Gegenverkehr! Die erste Gruppe kommt uns entgegen. Schweigsam, konzentriert, nur das Surren der Ketten. Etwa dreißig Mann. Danach lange nichts. Das ist ein Gefühl, sage ich euch: Du schaust auf den Tacho hast kaum 450 Kilometer gerissen und Dir kommen Fahrer entgegen, die knapp 800 auf der Uhr haben. Da tröstet auch wenig, dass die neun Stunden vor einem los sind…
Um halb zwei erreichen wir Loudéac (km 460). Ich habe den Komfort eines Betts im Wohnmobil, das ich für zwei Stunden nutzen werde. Klaus muss einen Platz im überfüllten Saal von Loudéac ergattern, um ein wenig Schlaf zu finden. Das ist natürlich viel näher am Brevetgedanken, als im Wohnmobil zu pennen. Ich will trotzdem nicht meinen Individualplatz gegen den im Flüchtlingslager tauschen. Um halb fünf treffen wir uns wieder und sitzen auf dem Rad, um gemeinsam weiterzufahren.
Ich merke schnell, dass ich müder bin als vorhin, als ich ins Bett stieg. Außerdem kann ich jetzt nicht mehr so schnell wie Klaus. Hinter Loudéac beginnen nun die sehr sehr hügeligen Abschnitte. An der Geheimkontrolle, die die Organisatoren irgendwo auf dem Weg zur nächsten offiziell verzeichneten Station eingebaut haben, lege ich mich hin und schlafe eine weitere Stunde, bis es endlich hell wird. Klaus fährt indes weiter.
Von nun an will ich ausschließlich mein eigenes Tempo fahren, meide jede Gelegenheit zur Gruppe, die sich bietet. So erhole ich mich und finde wieder in den Tritt.
Ich fahre ein paar Kilometer mit Tom aus Canberra, Australien. Es ist sein erster Trip nach Europa. Warm gemacht hat er sich mit einer zweitausend Kilometer langen Radtour die Loire rauf und runter. Er sei auch schon mal von der West- zur Ostküste Australiens gefahren. Ich erfahre, dass das australische Hinterland für ihn erst dort beginnt, wo man keinen Menschen mehr trifft. Sobald man jemanden treffe, sei es kein Hinterland mehr. Zur Ostküste von Melbourne nach Perth, meint er, ginge es fast ausschließlich durch Hinterland.
Da bin ich hier ganz froh, dass ich bei 5.000 Startern, seien die Leistungsunterschiede auch noch so groß, immer auf jemanden treffe. Insbesondere nachts ist die Gesellschaft zumindest von Rückleuchten, das stete überholen und überholt werden, sehr - wie soll ich sagen - befriedigend für den Kopf. Es bedeutet Gesellschaft, ob aktiv wahrgenommen durch Gruppenbildung, oder passiv genossen - ich bin nicht allein. Dieser Umstand macht ParisBrest psychisch einfacher als zum Beispiel Bordeaux-Madrid, wo die 59 Starter meiner Gruppe entweder gar nicht oder auf zwölf Stunden verteilt das Ziel erreichen. Dort ist man wirklich allein. Physisch ist ParisBrest natürlich allein wegen der Länge und den fortwährenden Hügeln eine ganz eigene Nummer.
Noch am Vormittag erreiche ich Carhaix (km 530) und am frühen Nachmittag das wunderschön an der Atlantikküste gelegene Brest (km 620). Über eine windausgesetzte Brücke geht es über die Mündung der Elorn direkt auf Brest zu. Hier, am Westzipfel der Bretagne, ist der Wendepunkt. Von nun an geht es abgesehen von etwa hundert Kilometern den Hinweg auf der gleichen Strecke wieder zurück. Die den Weg weisenden Pfeile sind nun andersfarbig und tragen nicht mehr den Schriftzug Aller, sondern treffend Retour. Überhaupt muss ich sagen, dass die Strecke hervorragend ausgeschildert ist. Es gibt sogar Streckenirrtumspfeile hinter Abzweigungen. Hier sollte auch nachts, ausreichende Beleuchtung vorausgesetzt, nichts schief gehen.
Der Tag bytheway ist bisher sonnig und lässt keine Wünsche offen. Zurück geht es wieder über den Roc Trévezel, den mit etwa 350 Metern höchsten Punkt der gesamten Strecke. Es ist sehr windig und man hat dabei einen schönen Blick bis zum Atlantik.
Am frühen Abend erreiche ich wieder Carhaix (km 700). Dort diskutiere ich mit Jud, einem Amerikaner, über die Vor- und Nachteile der 84-Stunden-Gruppe. Das Resümee seiner Lage: „I am calculating now. I only want to survive!"
Meine Beine sind am Ende des zweiten Tages nun schon recht müde, meinen Hintern habe ich mir an einer Stelle wund geritten, meine linke Achillessehne ist geschwollen, und zuletzt spüre ich deutlich die Knie. Nicht mehr spüren tue ich die äußeren beiden Finger der rechten Hand. Aber das ist mir unter dem Phänomen Radfahrerlähmung hinlänglich bekannt (Googelt das mal!). Mein Körper ruft nach einer ordentlichen Pause, doch mein Etappenziel ist wiederum Loudéac, wo auch das Wohnmobil steht. Nur noch 75 läppische Kilometer.
Ich präpariere mich für die Dunkelheit. Gerade bin ich auf der Strecke, da fängt es an zu regnen. Dieser Regen, mal stark, mal weniger stark, begleitet und zermürbt mich die nächsten vier Stunden. Regen kombiniert mit Dunkelheit und ständigem Auf und Ab ist ein Schlauch! Irgendwann sind auch Überschuhe und Regenjacke durchnässt.
Bergauf trete ich in die Pedale, um meine Körpertemperatur auf ein vernünftiges Niveau zu bringen, die folgenden Abfahrten schleiche ich hinunter, stetig auskühlend, wenig Orientierungsmerkmale findend an den schmalen und randstreifenlosen, wahrlich dunklen Nebenstraßen.
Eine Gruppe Tschechen mischt sich mit Amerikanern und heftet sich an meine Fersen. Bergauf könnten die meisten schneller, das hat sich schon gezeigt, doch in den Abfahrten ist bei dieser Witterung mein feines Halogenlicht, erzeugt durch einen Nabendynamo, den meist kläglichen Batteriefunzeln der anderen überlegen. Die Blinden reihen sich hinter dem Einäugigen ein.
Vor einem besonders steilen Gefällestück halte ich an und überlege, ob ich es bei diesem Regen angehen soll. Vorhin schon reagierten meine Bremsen nur mit Verzögerung und euphemistisch formuliert: sanft… Mein Gedächtnis ruft das Bild ab, als ich letztes Jahr in einem Wolkenbruch die gut ausgebaute Südseite des Sankt Gotthard runter bin, meine Bremsen boten keine Verzögerung mehr, und auf dem Rahmen sitzend nahm ich die Schuhe zur Hilfe, um irgendwie langsamer zu werden. Zum Glück kam vor der ersten Haarnadelkurve eine Galerie, sonst hätte ich wohl einen schönen Abflug gemacht…
Irgendwie erreiche ich Loudéac (km 775) und falle erschöpft in mein Bett.
Bei einem Brevet volle sechs Stunden am Stück zu schlafen, ist schon fast eine Frechheit, ich weiß. Mir ging es aber danach wirklich erstaunlich gut. Meine Achillessehne und meine Knie bekamen Unterstützung einer Creme, die ich aus einer der vielen Pharmazien am Wegesrand bezog. Es gilt des Nachts: siehst Du ein Rudel Räder stehen, so handelt es sich um eine Bar. Des Tags gilt: es handelt sich entweder um eine Bäckerei oder um eine Apotheke. Und der wunde Hintern wurde von nun an regelmäßig mit einer zweiten Creme geschmiert.
Als ich mich um halb neun wieder auf den Weg mache, kommen die Knochen erst wieder langsam in die Gänge. Dutzende überholen mich. Ich muss mich vorerst mit der Rolle des Langsamsten anfreunden. Muss ich erwähnen, dass es regnet? Na ja, um fair zu bleiben, es ist mehr ein grauer stetiger Niesel.
Hinter mir ertönt eine handelsübliche Fahrradglocke. „Welcher Depp klingelt denn vor dem Überholen?" Bevor ich mich umdrehen kann, rauscht auch schon mit doppelter Geschwindigkeit eines dieser vollverkleideten Zäpfchen an mir vorbei. Ach so. Deshalb. Der Pilot hat wahrscheinlich noch bei seinen Tanten Kaffee getrunken und dabei die Zeit vergessen, versuche ich mir diese späte Begegnung zu erklären. Am nächsten Hügel wird er die Tragflächen ausfahren, an der Kuppe abheben und ohne Umwege ins Ziel fliegen.
Irgendwo werde ich in eine zweite Geheimkontrolle gewunken, fahre schnell (haha!) weiter. Die Kontrolle bei Tinteniac (km 860) erreiche ich um 13 Uhr. Ich beginne, die Öffnungszeiten der Kontrollen mit meinen Einlaufzeiten zu vergleichen, und muss feststellen, dass ich mich nur noch eine Stunde vor dem Kontrolllimit bewege.
Daran hat sich auch nichts geändert, als ich in Fougères (km 920) eintreffe. Weiterhin bin ich nur eine Stunde vor dem Limit. Mir wird klar, dass ich bei meinem nächsten vereinbarten Wohnmobil-Treffpunkt in Mortagne-au-Perche wohl nicht viel mehr als ein Frühstück werde einnehmen können. Eine weitere Schlafpause ist nicht mehr drin. Da muss ich durch.
Hier, im letzten Viertel der Strecke, beginnt für mich der intensivste und interessanteste Abschnitt von ParisBrest. Es ist herrlich einfach, hier Menschen kennen zu lernen.
Als erstes fahre ich ein Stück mit einem Brasilianer. Der ist auf einem Birdy-Klapprad unterwegs! Ab fünfzig Sachen, meint er, wird es heikel wegen der kleinen Räder und des Gepäcks. Immerhin hat er es bis hierhin geschafft. Überhaupt, es gibt nicht nur am Start, sondern gerade unterwegs die zum Teil abenteuerlichsten Gefährte und Gefährten zu bestaunen. Ich sah zwei Fahrer mit Bahnrädern, also starrer Nabe. Der eine, ein Schotte, hatte nicht mal Bremsen! Bergab wird dann halt die Verzögerungsleistung erbracht durch weniger schnelles Treten… Oder den Typen auf dem kuriosen historischen Dreirad. (Vor vier Jahren hat ja einer erfolgreich auf einem Sport-Tretroller teilgenommen, was dieses Mal verboten gewesen sein soll). Sehr spannend fand ich auch das Goofy-Liegerad-Tandem. Hier liegt der zweite Mann, in diesem Fall eine Frau, rückwärts zur Fahrtrichtung. Sie klemmt ihre Hände an einen winzigen Lenker, der die Bezeichnung Lenker nicht verdient, da er nicht zum Lenken vorgesehen ist, aber immerhin mit einem Spiegel ausgestattet ist, damit sie wenigstens irgendwas vom Geschehen in Fahrtrichtung mitbekommt… Wer die Machtlosigkeit kennt, die der Hintermann auf einem Tandem fühlt, der wird dieses Gefühl hier potenzieren müssen.
Als nächstes treffe ich auf einen Israeli, der mir verrät, dass er sich erst am Start in Paris eine Regenjacke gekauft hätte. So etwas sei in Israel einfach unüblich…
Der Amerikaner Greg, der selbst Fahrräder baut und im Anschluss auf der Eurobike in Friedrichshafen seine Kollektion ausstellt, will einfach nur unterhalten werden, so müde ist er. Ja, die Müdigkeit ist nun das sichtbarste Zeichen. Ich treffe auf einen Chinesen, der laut mit sich selbst redend in Schlangenlinien den nächsten Hügel bezwingt.
Müdigkeit. Ein Japaner fährt seitlich auf gleiche Höhe, grinst mich an. Wortlos nehme ich das als interkulturelles Zeichen der Kooperation und wir wechseln uns in der Führung ab. Bald gesellen sich Amerikaner zu uns. Direkt vor mir fahrend bringt ein Amerikaner den Klassiker: er touchiert auf regennasser Straße seitlich das Hinterrad seines Vordermanns und wird über den sich abrupt wegdrehenden Lenker in den Straßengraben katapultiert. Das lief vollkommen geräuschlos ab, bis sein Rad über den Asphalt schlitterte. Gemeinsam ziehen wir ihn aus dem Graben. Spontanes Adrenalin verjagt bleierne Müdigkeit.
Müdigkeit. An den Rändern der Straße stehen Teilnehmer über dem Rahmen, ihren Kopf zusammen mit den Händen auf den Lenker gelegt. Power-Nap im Stehen! Oder, wie so viele, man legt sich gleich an den Straßenrand, gehüllt in Rettungsdecke oder sonstiges Accessoire.
Um halb elf erreiche ich Villaines-la-Juhel (km 1000). Ich gönne mir eine halbstündige Pause, bevor es die Nacht durchgeht. Unschlüssig lasse ich mich drinnen an einem Tisch nieder. Neben mir im erbarmungslosen Leuchtstoffröhrenlicht blicken rote Augen aus blassen Gesichtern. Mein Tischnachbar, ein vor Kälte und Müdigkeit zitternder Gesell, verschüttet seinen Kaffee und schlürft konsequent die Untertasse leer. Überall liegen Fahrer und schlafen. Meine Gedanken kriechen, ich kann kaum einen Entschluss fassen. Die frisch ausgelegte Regionalzeitung, die vom großen Sportevent auf der Titelseite kündet, missbrauche ich, um die Nässe aus meinen Klamotten zu saugen. Apathisch sitze ich da.
„Are you ok?" Ich blicke hoch in die wachen Augen einer freundlichen amerikanischen Zivilistin. Ich stammle ein wenig rum. Sie bietet mir schließlich an, sich in die Schlange zu stellen und mir einen Kaffee zu besorgen, während ich doch ein paar Minuten schlafen könne, so wie ihr Mann, der da hinten liege. „Milk and Sugar?" Schlaraffenland.
Jetzt noch 80 Kilometer durch die Nacht bis Mortagne-au-Perche. Ich treffe auf Audrey aus Los Angeles. Audrey ist 48 Jahre, vierfache Mutter, zweifache Großmutter und verdient ihre Brötchen als Fitness Coach. Audrey ist das Beste, was einem nachts passieren kann! Sie hört nie auf zu reden und fängt lustige Spielchen mit den Leuten an, mit denen sie eine Gruppe bildet. „C`mon, Mart, 30 seconds in the lead. Everybody! Go, Mart… 6, 4, 2 and out!" - "That weren´t 30 seconds." - "Believe me, sweety, I do this everyday".
Wir trösten uns, dass das Wetter auch etwas Gutes habe, schließlich habe sie ihre Sonnencreme vergessen. Wir versuchen uns gegenseitig wie im Altersheim mit unseren akuten Beschwerden zu beeindrucken. Ich nenne sie despektierlich Grandma, was mir den grellen Schein ihrer Stirnlampe in mein Gesicht und einen kleinen Sympathieverlust einbringt. Ein Lacher am toten Punkt ist allerdings sehr erfrischend.
Überall an den Straßenrändern haben sich Anwohner zu Grüppchen zusammengefunden und schenken kostenlos Kaffee und Tee aus. Die Atmosphäre ist großartig. Das stellt die zahlreichen Mittsommerfeiern bei Trondheim-Oslo deutlich in den Schatten. Wer ignoriert sie bei Autofahrten nicht, die Papptafeln Honig 200m? Hier löst ein selbstgemaltes Schild Coffee 150m die pure Vorfreude aus. Und wenn der tapfere Helfer schließlich selbst den Weg ins Bett findet, dann stellt er zuvor zu den Thermoskannen noch ein Schild self-service.
Mein letztes frisch erkorenes Hobby ist es, den zahlreichen Fröschchen bis hin zu ausgewachsenen Kröten auszuweichen, die sich auf der Straße tummeln und im Schein des anrückenden Lichts ihre Fortbewegung einstellen, was sie zumindest berechenbar macht.
Um halb vier morgens erreiche ich Mortagne-au-Perche (km 1085). Die Anfahrt wurde noch einmal mit einer prickelnden Steigung erschwert, die mich in den kleinsten Gang zwingt. Hier treffe ich erneut auf Tracy und Jeff, das amerikanische Tandem. Die beiden sind immer noch in guter Stimmung. Erstaunlich. Ich muss an den Fahrer denken, der an sein hinteres Schutzblech einen Zettel mit der launigen Aufschrift Are you still having fun? geklebt hat.
In der Halle gönne ich mir zehn Minuten Schlaf. Mein Handy fungiert als Wecker, lässt meine Hand vibrieren und mich verdutzt hochschrecken. Was ist los? Wo bin ich? Ach ja, scheiße.
Auf der letzten Strecke sind mir die Riegel ausgegangen. Nun hat sich ein beißendes Hungergefühl eingestellt. Im Eingangsbereich konkurrieren zwei Verkaufsstände miteinander. Auf der einen Seite werden Riegel und Powergels auf der anderen Seite Trockenfrüchte verkauft. Ich kann die synthetische Nahrung nicht mehr sehen und entscheide mich für ein halbes Pfund getrocknete Aprikosen, die ich mit großem Appetit vertilge.
Trockenfrüchte, da war doch was? In den nächsten Stunden wölbt sich mein Bauch äußerlich zu einer mächtigen Plauze, während sich drinnen ein Vergärungsprozess vollzieht, der seines Gleichen sucht. Die fötide Luft bahnt sich zielstrebig ihren Weg. Meine Mitfahrt in einer Gruppe wird so unter olfaktorischen Aspekten verunmöglicht. Auch wer seit drei Tagen in den gleichen Klamotten rumeiert, verneint noch nicht zwangsläufig alle ästhetische Grenzen.
Bei einer der letzten Abfahrten in Dunkelheit und Regen barg eine kürzlich eingesetzte Fahrbahnverschwenkung besondere Gefahr. Die Fahrbahnmarkierung war noch die alte und führte strikt geradeaus auf eine Verkehrsinsel, während der Asphalt nach rechts abbog. Wer sich dort im Tunnelblick auf die Markierung verlies und das Gesamtbild nicht im Auge hatte, fand sich auf dem frischen Grün wieder. So traf ich allein dort zwei humpelnde Gestalten ihr Rad schiebend.
Ich treffe auf Friedhelm, der noch mächtig Saft in den Beinen hat. Wir fahren ein Stück gemeinsam, verlieren uns dann aber aus den Augen.
Endlich wird es hell. Mich überholt eine große Gruppe in Zweierreihe. „Nix wie rein dort". Ich reihe mich ein, bekomme jedoch sofort unmissverständlich zu hören, dass ich da nichts zu suchen hätte. Die zehn Schweden wechseln geordnet durch. Hierzu dient ein Abgrenzer, der am Ende der arbeitenden Gruppe fährt und die Kommandos gibt. Hinter dem Abgrenzer etwa zwanzig weitere Fahrer unterschiedlicher Couleur, die mehr oder minder konzentriert im Windschatten rumgondeln. Ich frage den Abgrenzer, ob ich denn mitarbeiten dürfe, was nach kurzer Diskussion bejaht wird. So reihe ich mich doch noch in die sichere vordere Gruppe rund um Marie aus Katrineholm ein. Maries Rad hat nach einem Sturz in der Nacht die Schaltfähigkeit des hinteren Schaltwerks verloren. So wird sie an Steigungen, die sie nun mit 30/13 fahren darf, von ihren Kollegen aus dem Radclub beherzt geschoben.
Gemeinsam erreichen wir Dreux (km 1160), die letzte Kontrolle vor dem Ziel. Meine Knie stellen mittlerweile alle anderen Zipperlein in den Schatten. Strecken und Beugen tut mächtig weh. Die erneut aufgetragene lidocainhaltige Cortisolsalbe hilft auch nicht mehr wie noch vor Stunden. (Zu Hause finde ich raus, dass die Salbe, die ich mit meinem Aushilfsfranzösisch in einer Pharmazie erstand, eigentlich zur Linderung von Insektenstichen gedacht ist…)
Rasten heißt hier tatsächlich rosten, so dass ich rasch weiterfahre, in der Hoffnung, die letzten siebzig schon noch packen zu können. Ja, nur noch siebzig, ein Katzensprung, und doch eine Qual, wie sich herausstellen sollte. So bleibt mir die triumphale Leichtigkeit der Ankunft versagt. Mit tosendem Applaus wird meine Gruppe am Rond-Point in Guyancourt (km 1230) begrüßt. Meine Miene bleibt versteinert. Schmerzen. Rad abstellen, noch ein letzter Stempel und dann ist alles egal.
Über die Zeit nach dem Zieleinlauf, muss ich gestehen, weiß ich nichts mehr. Selbst an das Telefonat, das ich mit meiner Frau geführt habe, kann ich mich nicht erinnern. Ich habe einen Post-Zielstrich-Filmriss erlitten.
In Erinnerung bleiben wird mir jedoch der unglaubliche Anblick meiner Füße nach 28-stündiger Fahrt in Überschuhen, den Füßen einer Wasserleiche gleich.
Meinen herzlichen Dank an Claus Czycholl, der mit der Ausrichtung der Brevet-Serie in Hamburg, den Rahmen für jegliche Qualifikation gesteckt hat. Herzlichen Dank an die 1.500 ehrenamtlichen Helfer in Frankreich, ohne die es ParisBrest nicht gäbe. Und an meinen Vater, der mit dem Wohnmobil an ausgewählten Stationen pflegend und aufbauend zur Seite stand.