16te-Paris-Brest-Paris
Christian Schulz (rand at bartali,dyndns,org)
Aperitif
"Alex, wart mal kurz." Wie anders sollte man sich auf PBP vorbereiten (abgesehen von den obligatorischen Brevets natürlich) als durch einen zweiwöchigen Urlaub in mittelschwerer Landschaft (hier: Österreichs Alpen), auch wenn der in diesem Fall mit eben jenen vier Worten ein jähes Ende findet: Beim Losfahren an einer Ampel beschließt mein treuer Principia-Rahmen spontan vermöge eines Kettenstrebenbruchs zu sterben. Drei Wochen vor PBP eher ungünstig, gilt es doch, bis dahin ein neues Rad zu finden und sich so dran zu gewöhnen, dass man sich damit 1200 km "am Stück" auch zutraut. Der Radhändler meines absoluten Vertrauens hatte aber nur 2 Tage später ein perfektes Neurad am Start. Respekt und Dank!
[1] - Dieses Rad möchte kein PBP fahren
[2] - ...dieses hier muss!
Vorspeise
Sonntag, 19.08., 14:00. Just als Alex, mein treuer Begleiter auf vielen Radurlauben, und ich vom Hotel aus losfahren wollen, um Ross und Reiter kontrollieren und anmelden zu lassen, hören wir, dass auf die Fahrrad-Begutachtung wegen des schlechten Wetters - Tendenz zum Dauerregen - verzichtet werden soll. Wir sehen uns kurz an und fahren dann doch mit dem Rad zum Menschenrechtsstadion. Ob das ne kluge Wahl war? ... Jedenfalls sieht es so aus, als seien alle schon da. Enno, ebenfalls ein langjähriger Urlaubs- und Brevetkamerad und eigentlich als dritter Mann fest eingeplant gewesen, musste leider wegen Krankheit seine Mitfahrt absagen. Nach Paris und bis zum Gymnase Droits de l'Homme hat er uns aber begleitet - jetzt muss er leider draußen bleiben, was uns in der Seele weh tut. Kaum haben wir die Schleusen passiert, öffnet auch der Himmel seine Schleusen und lässt spontan alles Wasser raus. Das Rad kurz zu parken und in die Halle eilen reicht, mehr als klatschnass zu werden.
Drinnen ist ne richtig klasse Luft, aber auch eine prima organisierte Startunterlagen-Ausgabe. Flugs sind wir registriert, und während Alex schon zum Ausgang drängt, mach ich noch die Honeurs bei den Kollegen. Erstaunlich, wie viele Leute ich in den zwei Jahren, die ich brevetiere, schon kennengelernt habe; das merkt man erst, wenn man die alle mal auf einen Haufen sieht.
Dann geht's heimwärts. Es regnet nicht mehr, die Straße ist aber kladdernass. Etwa 1.5 km vorm Hotel ist ein Kreisverkehr mit vorgelagertem Zebrastreifen. Ich peile und ... flatsch. Voll auf die Butterseite geknallt. Vernachlässigbare Schürfwunden, Rad erstmal unauffällig, und nach dem ersten Schrecken gehts weiter.
100m später: "Alex, wart mal kurz." Das Schaltwerk steht irgendwie windschief. Da muss ein Fachmann ran, aber woher nehmen? Also zurück zum Gymnase, mich durchgefragt, und tatsächlich zaubert der Trinkflaschen- und Reifenverkäufer in der Halle einen Mechanikus nebst Werkzeug herbei, der ohne viel Aufhebens die ganze Grütze wieder richtet. Mein persönliches Denkmal gebührt dem unbekannten Mechaniker!
[4] - Denkmal für den unbekannten Mechaniker
[3] - Schöne Bescherung
Danach lass ich mich noch auf Anraten eines Ordners in das Rot-Kreuz-Zelt schleusen, um die Schürfwunden zu desinfizieren. Vielleicht keine schlechte Idee, bevor der Ellbogen in den nächsten drei Tagen zueitert... Im Zelt ist es stockfinster, der Sani leuchtet mir mit einer Taschenlampe den Weg. Der Lichtfleck schreckt auch eine Sanitäterin aus ihrem Schlaf hoch, die dem weiteren interessiert zuguckt. Zusätzlich springen noch zwei Kameraden herbei, wovon der eine während des folgenden die Taschenlampe hält, der andere erfolglos versucht, die Zeltplane so zu öffnen, dass wir Tageslicht erhalten.

Es folgt: Desinfizierung der 1-Euro-Stück großen Schürfwunde am rechten Ellbogen.

Ende des Vorhergehenden unter Hinterlassung des Namens auf einem Behandlungsformular.

Vorteil der ganzen Aktion: Wir sind doch noch rechtzeitig zur Vollversammlung der "deutschen Abgeordneten" wieder vor Ort und schauen uns das ganze mal aus sicherer Entfernung an. ;-)
[5] - Deutsche Teilnehmer im vollen Ornat
´[6] - Claus gibt schon am Vortag alles, um uns anzufeuern
Hauptgang
km -0.6 Endlich im Stadion! Pünktlich setzt auch wieder der Regen ein. Da Alex ein Dixi-Häuschen aufsuchen will, ordnen wir uns freiwillig in die rechte Schlange ein - und werden dann nie mehr das Gefühl los, dass das hier nur ungefähr mit einem Viertel der Geschwindigkeit voran geht wie links. Ganz vorne erkennt man, wie zwei oder drei Helfer jeden Starter gründlichst auf vorschriftsmäßige Beleuchtung und Bekleidung kontrollieren. So verständlich und richtig das auch ist - nervt grad ein bisschen. Kühl wird's auch. Zum Zeitvertreib wird das erste Unterwegs-Panino vernichtet. Immerhin treffen wir mehrere bekannte Gesichter, unter ihnen Armin von ganz oben in Deutschland, wo es ja auch immer regnet.
[7] - Der Mann in Gelb leuchtet hinreichend und darf mit!
km 0 - 22:50. Der Ansager macht uns vor den ersten Kilometern noch mal ordentlich Angst und warnt vor Mauern in der Fahrbahnmitte und ähnlichen verkehrstechnischen Greueln. Und dann knallt was, und los geht's!

km 0.2 - Das Volk ist begeistert, und ich bin es auch. Endlich nicht mehr warten, sondern fahren. Das riesige Feld, etwa 500 Leute, fährt sehr diszipliniert und mit mäßigem Tempo, außerdem zieht sich das sofort stark in die Länge, so dass auf der abgesperrten Fahrbahn gar keine kritische Situation aufkommt.

km 13 - "Alex, wart mal kurz." Berühmte vier Worte. Dann, inmitten des noch kompakten Felds des 6. Startblocks, vorsichtiges Runterbremsen und Anhalten: Mein Hinterreifen wirkt sehr luftlos. Erster Gedanke: Das macht 20 Minuten weniger Schlaf kommende Nacht. Vielleicht gewinne ich wenigstens den Trostpreis für die erste Reifenpanne. Zum Glück steht direkt vor uns ein Polizeiwagen (die Besatzung sichert den Kreisverkehr direkt dahinter ab) und spendet mir reichlich Licht beim Reifenwechsel. Ein Glassplitterchen hatte sich festgesetzt und langsam den Schlauch perforiert; mit etwas ungutem Gefühl belasse ich es bei einem Rausprokeln und spare mir den Ersatzmantel erstmal auf. Der Zeitverlust beträgt ziemlich genau 20 Minuten: Mitten in das anrauschende 23:10-Feld begeben auch wir uns wieder auf die Reise.
[8] - Gut geprokelt ist halb gefinisht
km 46 - Jede Dorfdurchfahrt macht Gänsehaut. Trotz miesen Wetters und nachtschlafender Stunde stehen an den Straßenrändern die Leute und feuern uns an.

km 60 - Zeit für einen ersten kurzen Halt, um das nächste Unterwegs-Panino aus dem Rucksack zu fischen. Gleichzeitig beobachte ich ein bisschen mit Sorge, wie wenig Wasser ich nur noch habe, wo es doch noch 80 km bis nach Mortagne au Perche sind.

km 70 - Sorgen ade! Eine Brasserie in Tremblay Les Villages hat Kisten mit etwa 41251 Wasserflaschen aufgestellt und verteilt sie an uns (die Flaschen, nicht die Kisten). Da denkt doch jemand mit! Außerdem bietet sich die Gelegenheit, dort meine vom Reifenwechsel schwarzen Hände mal mit etwas Seife zu beschmieren. Auf dem Weg zum Waschbecken falle ich fast über die etwa sechsjährige Tochter des Hauses, die in einem Schlafsack im Verkaufsraum der Brasserie campiert. Zum Schlafen scheint sie aber nicht so recht zu kommen.

km 103 - Nun mach ich mir doch wieder ein paar Sorgen: Ich finde uns zu schnell. Alex und ich fahren den üblichen Rhythmus: Eher schnell unterwegs, dafür öfter mal eine Pause. Ich krieg ein bisschen Angst, schon auf den ersten paar hundert Kilometern zu überziehen. Aber langsamer fahren geht auch irgendwie nicht so recht; und die Gruppen, auf die wir auffahren, sind so deutlich langsamer, dass wir es nur wenige Meter dort aushalten.

km 120 - Sonderverpflegung an einer nachtoffenen Brasserie! Ein Pain au chocolat verschwindet sofort, ein Baguette kommt in den Rucksack für unterwegs. Pünktlich zum Losfahren setzt auch wieder der Regen ein.

km 134 - Die Landschaft ist irgendwie anders - viel hügeliger als am Anfang. Ich mag das ja eigentlich, aber bei dem herrschenden Regen sind die Abfahrten ein bisschen abenteuerlich. Mein E6 leistet mir jetzt exzellente Dienste, und die Straßen haben zum Glück noch weiße Randmarkierungen.

km 188 - Nachdem wir die im Roadbook als gefährlich eingestufte Kreuzung passiert haben, bleiben wir sogleich an einem schon lange sehnlichst erwarteten Restaurantchen stehen in der Hoffnung auf ein Frühstück. Natürlich ist der Laden gerammelt voll mit Randonneuren, und die Wirtin, völlig allein auf sich gestellt, gibt alles - was natürlich nicht wirklich reicht. Und das geht ja wahrscheinlich schon seit drei Stunden so... Für einen Kaffee und zwei Croissants reicht es aber, und etwas verstört begeben wir uns wieder auf die Reise.

km 222 - Endlich die erste "echte" Kontrolle, und was für eine! Der Menschenauflauf hat etwas volksfestartiges; es ist sehr beeindruckend. Irgendwo in dem Getümmel prallt mir ein Hüne entgegen, mit etwas Abstand merke ich dann, dass es Kai ist, mit dem ich voriges Jahr in Hamburg einen 600er <http://www.bartali.dyndns.org/fotos/brevet/2006/hamburg-600/index.html> gefahren bin. Man wünscht sich viel Glück, und dann muss ich unbedingt zusehen, Stempel und Nahrung aufzutreiben. Dummerweise sind wir brutto gerechnet viel langsamer als erwartet, was insb. Alex um seinen Schlaf kommende Nacht fürchten lässt. Meine Entgegnung, schlimmstenfalls im Hotel nur Sachen abzulagern und gleich wieder weiter zu fahren, erheitert ihn wider Erwarten nicht.
[9] - Der Franzose an sich ist sehr radsportbegeistert
km 237 - Das ist mal eine ernsthafte Bergwertung, kurz nach Hardanges. Es regnet zwar mal wieder, macht aber trotzdem Spaß, da hochzufahren. Ein Schild warnt uns, dass in 50 m der "offizielle Fotograf" Posten bezogen hat; er meint damit aber wohl 50 Höhenmeter. Da er mit zugeschaltetem Blitz arbeitet, bin ich die nächsten 300m blind.

km 308 - Fougeres bekommt definitiv den Preis für die bizarrste aller Ortsausfahrten. Über irgendwelche verschnörkelten Nebenstraßen mit gefühlten 63% Steigung verlassen wir den Ort.

km 413 - Durchfahrt durch Illifaut, und dem zweiten Privatanbieter von Heißgetränken können Alex und ich nicht widerstehen. Es ist etwa 23:00, und ein warmer Kakao steigert das Wohlbefinden. Leider nur sehr radebrechend unterhalten wir uns mit den Gastgebern, und die etwa sechsjährige Tochter des Hauses untermalt die Konversationsversuche mit einem regelmäßigen "Uiiiiek!". Sie zitiert aber kein Meerschweinchen: Kurz vorher nämlich gibt es im Dorf an einer Abzweigung die Gelegenheit, falsch abzubiegen, welche auch fleißig genutzt wird. Ein Illifauter an der Kreuzung ruft die Kollegen auf die richtige Strecke zurück, und das nachfolgende Bremsen-"Uiiiiek" hat Frau Tochter nachhaltigst beeindruckt. Wir wollen gerade wieder aufbrechen, als eine weitere Anwohnerin mit frisch gebackenen Madeleines auftritt - es gibt keine bessere Entschuldigung, um noch einige weitere Minuten dort zu verweilen. Energie für die letzten 20 km!
[10] - Die drei K für's Überleben: Kekse, Kaffee, Kakao - inkl. Uiiiiek (2.v.r.)
km 429 - Mit den Gedanken schon im Hotel kommt von links plötzlich eine größere Gruppe Randonneure uns entgegen. Gejohle, Gekreisch - Ernüchterung: Das ist die Spitzengruppe des 80h-Feldes auf dem Weg zurück. Zwar sind die 3h früher als wir losgefahren, haben aber respektable 366 km Vorsprung. Plötzlich komme ich mir vor wie eine Schildkröte, und der Berg nach Plumieux scheint unbezwingbar.

km 433 - Nichts ist hier unbezwingbar, und so sind wir dann auch endlich im Hotel, dessen Besitzerin uns, nach einigen Anrufen vorgewarnt, auch wirklich noch Schlag 00:00 erwartet. Nur schwer können wir ihr aber begreiflich machen, dass wir kein Frühstück wollen, weil wir um 3:00 bereits wieder aufbrechen werden. In der Zeit gilt es zu duschen, die eingesauten Klamotten kurz zu waschen und ein wenig zu schlafen, was auch prima gelingt. Etwas später brüllt mich das Handy an, und ich hab keine Ahnung, wo oder wer ich bin und warum. Dann wuchte ich mich hoch - ich hab ja einen Auftrag - und sehe, dass das Handy wohl schon den zweiten Weckversuch unternommen hat. Verstohlen schleichen wir uns davon, allerdings nur mehr mit halbem Gepäck, denn die gewaschenen Sachen bleiben zum Trocknen da und werden morgen um etwa diese Zeit wieder abgeholt.

km 449 - "Frühstückskontrolle" in Loudeac. Wahrscheinlich schlafe ich noch, denn ich kriege gar nichts mit. Mutmaßlich frühstücke ich Sandwiches und Kaffee, und irgendwann setze ich mich wieder aufs Rad.

km 458 - Die Strecke wird anspruchsvoller, schmale Straßen und steile Rampen. An einem der Anstiege machen Alex und ich eine kleine Kunstpause, und ich warte am Straßenrand. Noch ist es stockdunkel, und von den Fahrern sieht man im Wesentlichen nur den Scheinwerfer und die fast obligatorische Stirnlampe, die an einem solchen schweren Abschnitt hin- und herschwankt - das ganze sieht aus wie ein Tier mit einem Auge auf einer suchend umhertastenden Antenne.
[11] - Invasion der Antennentiere (km 458)
[12] - Bei Tage sind die Antennen eingefahren
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